Welterod ist eines der Dörfer im Rhein-Lahn-Gebiet, in denen über lange Zeit Bürger jüdischen Glaubens lebten.
So wies die Volkszählung von 1895 in Welterod eine Einwohnerzahl von insgesamt 405 Personen aus. Neben 363 evangelischen und 62 katholischen Christen lebten 20 jüdische Bürger im Dorf. Damit waren rund 5% der BürgerInnen jüdischen Glaubens.
Nach Erzählungen und Berichten von Welterodern nach dem 2. Weltkrieg waren die Juden ein integrierter Teil des dörflichen Zusammenlebens mit all seinen Annehmlichkeiten und Problemstellungen. Jüdische Männer hatten im 1. Weltkrieg für ihr Vaterland gekämpft. Es gab gute nachbarliche Kontakte und Freundschaften. Die Dorfkinder besuchten gemeinsam die Schule. Sie besuchten einander in ihren Elternhäusern und spielten zusammen. Einige Erwachsene erinnerten sich z. B. an den wohlschmeckenden "Matze", das hauchdünne Gebäck der jüdischen Küche ihrer Nachbarn.
Wie hinlänglich bekannt, änderte sich alles mit Beginn der Naziherrschaft 1933. Auch in den Gemeinden unseres Gebiets kam es zu offen gezeigten Anfeindungen gegenüber jüdischen BürgerInnen. Die Parolen der Nazis: "Die Juden sind unser Unglück", "Juden sind Volksschädlinge","Juda verrecke", "Judensau", "Saujude" etc. zeigten Wirkung.
Seit 1871 gab es die staatsbürgerliche Gleichstellung deutscher Bürger jüdischen Glaubens. Ab 1933 wurden Gesetze und Verordnungen erlassen, die die Teilnahme der Juden am wirtschaftlichen, schulischen, beruflichen, sozialen und kulturellen Leben einschränkten oder verboten.
In der Pogromnacht, von den Nazis zynisch "Reichskritallnacht" genannt, vom 09. auf den 10. November 1938 zeigte sich offen der Staatsterror des Regimes: Es wurden Zehntausende jüdische Bürger brutal misshandelt, öffentlich und in ihren Wohnungen, ca. 100 ermordet, 30.000 in KZ verschleppt, über 2.600 jüdische Gottes- und Gemeindehäuser geschändet und zerstört, Friedhöfe verwüstet, 7.500 jüdische Geschäfte geplündert.
Auch in Welterod wüteten die Nazis aus der Region (SA und andere). Bezeugt von Welteroder BürgerInnen sind die Verwüstungen der Wohnhäuser und die Misshandlungen der BewohnerInnen.
Der Welteroder Karl Saueressig äußerte sein Entsetzen über das brutale Vorgehen gegen seine jüdischen Nachbarn. Ihm bedeutete der Bürgermeister besser zu schweigen, ansonsten laufe er Gefahr, ebenfalls abtransportiert zu werden. Christian Lenz aus dem Nachbardorf Strüth entkam den SA-Schlägern nur durch schnelle Flucht in das Dunkel der Nacht. Er hatte einer jüdischen Bürgerin ihre Schuhe nachgetragen, die sie verlor, als die Nazihorde sie durch die Dorfstraßen jagten.
Alle jüdischen BürgerInnen verschleppte man in die Synagoge nach Nastätten. Dort eingesperrt mit Glaubensbrüdern und -schwestern aus den Gemeinden der Umgebung wurden sie weiter drangsaliert und gedemütigt.
Am Morgen des 10. November 1938 sah ein Zeitzeuge Welteroder Juden auf dem 8 Kilometer weiten Heimweg von Nastätten kommend. Er berichtete, dass sie barfüßig waren, und ihre Füße bluteten.
Es blieb nicht bei den Misshandlungen und Drangsalierungen dieser einen Nacht. Augenzeugen berichteten davon, dass in der Folgezeit bis zur Verschleppung und Ermordung u. a. eine jüdische Bürgerin aus ihrem Haus getrieben und mit Stockschlägen unbekleidet durch das Dorf von jungen Männern gejagt wurde. Eine gehbehinderte junge Frau sperrte man in einen Gluckenkasten und urinierte auf die Geschundene.
Dokumentiert ist auch der einjährige "Zwischenaufenthalt" in dem Arbeitslager Friedrichssegen/Lahn von Emma und Hedwig Schönberg aus Welterod, bevor sie am 10. Juni 1942 gen Osten in den Tod verschleppt wurden.
Für die Beiden und ihre LeidensgefährtInnen ist in Friedrichssegen/Lahn eine Gedenkstätte errichtet. Sie sind vor dem Vergessen bewahrt und bei ihrem Namen genannt.
In einem der nun freigewordenen "Judenhäuser" richtete man den Dorfkindergarten ein. Eines Tages wurde die Leiterin, Frau Martha Salzmann, strafversetzt nach Darmstadt. Sie hatte verbotenerweise die Kinder christliche Gebete gelehrt. Erlaubt waren nunmehr "Kindergebete" folgenden Inhalts: "Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken. Er gibt uns unser täglich Brot und rettet uns aus aller Not".
Ein erfreuliches Kapitel der Dorfgeschichte spielte in der Nachkriegszeit. Anfang der 50er Jahre kehrte der Bürger Moritz Schönberg in sein befreites, demokratisches Heimatland und -dorf zurück. Als Einziger überlebte er das Morden der Nazis.
Er hatte beim Dorffrisör Mitte der 1930er Jahre den Reichskanzler Hitler beschimpft und wurde verhaftet. Ihm war das Glück beschieden, mit einem Einwanderungskontingent nach Shanghai zu entkommen.
Zunächst fand er nach seiner Wiederkehr Aufnahme als Untermieter bei einer Welteroder Familie. Er bewohnte danach ein kleines Häuschen, heiratete ein zweites Mal, und betrieb Handel mit Nutz- und Schlachtvieh für die Schlachthöfe in Koblenz und Wiesbaden, mit Tierhäuten und Tierhaaren für Gerbereien und eine Bürstenfabrik im Werkerbachtal bei Lipporn.
Herr Schönberg besass für die damalige Zeit zwei bemerkenswerte Dinge: Einen Vorkriegsopel "Olympia" und einen der ersten Fernseher im Dorf. (Erstes Deutsches Fernsehen ab 1952). Der Opel war ein begehrtes Fortbewegungsmittel. Es gab im ganzen Dorf kaum mehr als 10 Autos! Der Pkw wurde von etlichen jungen Dörflern, die bereits einen Führerschein hatten (Herr Schönberg besass keinen) für Besorgungs-, Vergnügungs- und Ausflugsfahrten benutzt bzw. ausgeliehen. Das völlig neue Medium Fernsehen zog insbesondere die Dorfjugend magisch an. Es gab regelrechte Fernsehabende in der dann überfüllten Wohnstube "beim Moritz". (Ähnliches spielte sich bei der zugereisten älteren Dame Frau Sartori ab).
Herr Schönberg war ein geachtetes Mitglied der Dorfgemeinschaft. Seine Grabstätte auf dem Welteroder Friedhof wird seit 1980 von einer Bürgerin aus dem Dorf gepflegt.